Landesmuseum, Zürich
Natur der Stadt
Wer am Zürcher Hauptbahnhof ankommt, gelangt nach wenigen Schritten in den bekanntesten Park der Stadt: den Platzspitz. Zunächst Viehweide im Sinne einer Allmende und Schützenplatz, später barocker Lusthain, verkam der Platzspitz in den 1980er-Jahren zum berüchtigten Zentrum der offenen Drogenszene, dem «Needle Park». Seit seiner Sanierung 1993 ist der Park wieder öffentlich zugänglich. Der Erweiterungsbau des Landesmuseums ermöglichte es, die Vielschichtigkeit des Ortes freizulegen und sichtbar zu machen.
Die prägenden Bäume der Anlage sind die rund 200-jährigen, mächtigen Platanen, zugleich Teil der Fluss- wie der Stadtlandschaft: Während die schleppenartig über den Fluss ragenden Platanenäste auf Bilder naturnaher Standorte in kühlen Flusstälern Kroatiens verweisen, erinnern die Bäume auch an die Tradition baumbestandener Strassen und Wasserläufe in europäischen Metropolen.
Die bekannteste der Platanen bildete bis vor kurzem einen besonderen Topos im Stadtraum. Direkt am Eingang des Parks spendete sie viele Jahrzehnte lang Schatten für den eher unauffälligen und schlichten Brunnen mit der zierlichen Skulptur der Flora. Die Figur, vor der sich die Passanten beim Trinken des Quellwassers verneigen, wurde durch den eindrucksvollen Stamm und die ausladende Krone geschützt und zugleich durch das starke Wachstum des Baumes verdrängt. Eine Beziehung auf Zeit, die nach Jahrzehnten der innigen Nähe zwangsweise enden musste.
An diesem ungleichen Paar waren verschiedene Ebenen der Stadtkultur ablesbar: neben dem Zugang zu kostenlosem Trinkwasser im öffentlichen Raum auch das Spiel mit den Massstäben und vor allem die «Natur der Stadt». Ein Aspekt, der auch an einer anderen Stelle wiederzufinden ist. Nur wenige Meter voneinander entfernt, fliesst das klare, grünliche Wasser der Limmat zwischen den gebauten Ufern bedächtig und kontrolliert dahin, während die wilde Sihl in ihrem Flussbett mit jedem Hochwasser braungraue Sedimente durch die Stadt spült. Die Ablagerung des Geschiebes führte einst zur Bildung des Platzspitzes und wurde nun, als Zuschlagstoff gebunden im Beton und über den Prozess des Schleifens, zum Belag für den Platz des Museums verdichtet.
Der robuste und urbane Ort schafft eine Ergänzung zur grossen Halle des Hauptbahnhofs, die den in Zürich fehlenden Bahnhofsplatz nicht vollumfänglich zu kompensieren vermag. Nachts wird die Bahnhofshalle geschlossen, und abgesehen vom Angebot der Gastronomiebetriebe stehen den Reisenden bis auf wenige Ausnahmen weder Sitzbänke noch Stühle zum Warten zur Verfügung. Demgegenüber bieten die langen, sanft geschwungenen Bänke vor dem Landesmuseum allen Passanten die Möglichkeit, sich gleichzeitig und in frei wählbarer Distanz nebeneinander hinzusetzen. Daneben versammeln sich Gruppen von Besucherinnen und Besuchern, Schulklassen oder auch Jugendliche im Sommer auf den Rasenflächen, die wie Intarsien in den mineralischen Platz eingesetzt sind. Als Bindeglied zwischen dem wichtigsten internationalen Verkehrsknotenpunkt und dem meistbesuchten kulturhistorischen Museum der Schweiz beschränkt sich der Platz nicht auf die Parzelle selbst, sondern ist ein integraler Teil des mehrschichtigen und komplexen Stadtgefüges.